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Titel
Zeit der Unterhändler. Koordinierter Kapitalismus in Deutschland und Frankreich zwischen 1920 und 1950


Autor(en)
Müller, Philipp
Erschienen
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Marx, Fachbereich III, Universität Trier

Als der frühere Bundesverkehrsminister Matthias Wissmann 2007 die Führung des Verbands der Automobilindustrie übernahm oder der ehemalige Chef des Bundeskanzleramts Ronald Pofalla 2015 zur Deutschen Bahn wechselte, war die öffentliche Empörung über die enge Verbindung zwischen Politik und Wirtschaft groß.1 Vermutlich hätte ein ähnlicher Schritt in Frankreich für weit weniger Aufsehen gesorgt. Die enge personelle Verflechtung von Politik und Wirtschaft, welche in Frankreich mit dem Begriff „pantouflage“ umschrieben wird, ist dort traditionell weit ausgeprägter als in der Bundesrepublik – nicht zuletzt aufgrund der hohen Bedeutung der Grandes Écoles für die Rekrutierung der politischen wie der ökonomischen Elite. Ein deutsch-französischer Vergleich über Kapitalismusvorstellungen von Unternehmensvertretern erscheint vor diesem Hintergrund in mehrfacher Hinsicht lohnend, um die Debatten über die Regulierung oder Begrenzung des Marktgeschehens in ihren längerfristigen Verwurzelungen und wechselseitigen Verflechtungen einzufangen.

Dabei geht Philipp Müller davon aus, dass die in der Zwischenkriegszeit entwickelten unternehmerischen Kapitalismusentwürfe nach 1945 mit einem institutionellen Wandel infolge des politischen Systemwechsels zusammenkamen und hieraus die Nachkriegsordnungen in der Bundesrepublik und Frankreich entstanden. Es habe somit nach 1945 keinen Neuanfang gegeben, ebenso wenig seien die Nachkriegsordnungen durch die Macht der Gewerkschaften und eine linksorientierte Politik zustande gekommen, vielmehr sei der „koordinierte Kapitalismus“ der Nachkriegszeit auf den Einfluss von Unternehmensvertretern und ihre institutionelle Festigung unter den autoritären Verhältnissen in Deutschland nach 1933 und Frankreich nach 1940 zurückzuführen. Die wirtschaftlichen Interessenvertreter avancieren hier zu maßgeblichen Protagonisten eines polit-ökonomischen Veränderungsprozesses in Richtung einer stärkeren Koordination der Marktteilnehmer. Dies ist zunächst einmal eine gewagte These, die sich gegen gängige Interpretationen wendet und daher neugierig macht.

Im Anschluss an korporatistische Theorien betont Müller immer wieder die Delegation quasiöffentlicher Funktionen an Wirtschaftsvertreter – die „Unterhändler“ – und ihre Mittlerrolle zwischen Politik und Wirtschaft. Ihre öffentliche Legitimation stärkte ihre Stellung innerhalb des Unternehmerlagers, umgekehrt entlasteten die Verbandsvertreter durch die Übernahme von Aufgaben den Staat. Dies ist in der Grundtendenz nicht unbedingt falsch, wäre im Sinne korporatistischer Ansätze aber ebenso auf Gewerkschaftsvertreter anzuwenden. Zwar scheint an einigen Stellen die Idee auf, auch Arbeitnehmervertreter in wirtschaftlichen Organisationen zu beteiligen, doch geht es hierbei kaum um eine gleichberechtigte Anerkennung ihrer Interessen. Unter „koordiniertem Kapitalismus“ versteht Müller hingegen vor allem die Zusammenarbeit konkurrierender Unternehmen derselben Branche in Kartellen, Syndikaten oder auch Handelskammern. Dies ist erstaunlich, denn er weist selbst darauf hin, dass erst die Integration von Arbeitgeber- wie Arbeitnehmervertretern den stabilen wirtschaftspolitischen Rahmen Westeuropas nach 1945 bildete. Ebenso unberücksichtigt bleibt die stabilisierende Wirkung von Unternehmensverflechtungen.2

Müller erklärt zunächst, wie wirtschaftliche Interessenvertreter in Deutschland und Frankreich die Notwendigkeit erkannten, das ökonomische Handeln unter den durch den Ersten Weltkrieg entstandenen Bedingungen neu zu orientieren. In Anbetracht der übermächtigen außereuropäischen Konkurrenz, widriger Finanzverhältnisse und neuer Zollgrenzen formulierten die wirtschaftlichen Interessenvertreter die Grundlinien eines „koordinierten Kapitalismus“. Dabei erscheint die transnationale Perspektive zum Aufstieg der Verbandsvertreter und den personellen Wechseln zwischen Politik und Wirtschaft in Deutschland und Frankreich durchaus erfrischend und kann eine Reihe ähnlicher und übergreifender Phänomene aufzeigen. Industrie- und Verbandsvertreter mochten den Wettbewerb nicht länger den Kräften des freien Marktes überlassen und liebäugelten mit einer stärkeren Rolle des Staates; gleichzeitig hegten sie den Wettbewerb über die Gründung zahlreicher (internationaler) Kartelle ein. Der Bedeutungsgewinn der Kartelle zu jener Zeit ist offenkundig. Weniger überzeugend ist hingegen die den Interessenvertretern hier zugewiesene Rolle. Dass der von Verbandsvertretern reklamierte Anspruch, die Bedürfnisse der gesamten Wirtschaft und damit auch diejenigen der Arbeitnehmer zu berücksichtigen, kaum der Wirklichkeit entsprach, wird von Müller nicht näher problematisiert. Stattdessen wird hierin ein Beleg für ihren Reformwillen gesehen. Schon aus Eigeninteresse mussten die Verbände allerdings darauf drängen, als notwendige Organe eines zukünftigen Kapitalismus wahrgenommen zu werden, und es ist wenig verwunderlich, dass sie sich gegenüber parlamentarischen Vertretern in ökonomischen Fragen überlegen fühlten.

Dies zeigte sich nicht zuletzt am Ende der Weimarer Republik, als die Vision eines „koordinierten Kapitalismus“ jedoch nicht ausreichte, um Unternehmer und Verbandsvertreter von Macht- und Konkurrenzkämpfen abzuhalten. Stattdessen verbesserten sich die Möglichkeiten zur Durchsetzung eines koordinierten Kapitalismus im Anschluss an die Weltwirtschaftskrise, als staatliche Funktionen privatwirtschaftlichen Vereinbarungen übertragen wurden. Doch währte diese Kooperation zwischen Staat und Wirtschaftselite nicht lange, denn mit Beginn der Machtübernahme der Nationalsozialisten entzog der Staat den privatwirtschaftlichen Vertretern wieder einen Teil ihrer Legitimation. Gleichwohl bedeutete dies nicht das Ende der Verbände. Gerade umgekehrt sieht Müller in der ungeklärten Hierarchie von Parteiinstanzen, Verwaltungsbehörden und halböffentlichen Organisationen eine Voraussetzung für ihre Gestaltungskraft im Nationalsozialismus.

Zu Recht weist er darauf hin, dass die Vorstellung einer distinktiven Grenze zwischen Staat und Wirtschaft zur Umschreibung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems wenig hilfreich ist, und auch die Mitwirkung der Verbände in der NS-Rüstungsproduktion kann kaum bezweifelt werden, doch blenden dieser Blick und die Betonung der Kontinuitätslinien Konflikte und Veränderungen zu sehr aus. Zwar mochten einzelne Verbandsvertreter die Integration des Verbandswesens in den Nationalsozialismus als Chance zur Reform des Kapitalismus begreifen, doch für die aus den Verbandsbüros vertriebenen Personen stellte sich dies gewiss anders dar. Die neuen Machthaber traten die Selbstverwaltung der Verbände bisweilen mit Füßen.3 Derartige Meinungsdifferenzen zwischen Verbandsvertretern und staatlichen Akteuren wie auch Konflikte innerhalb der Unternehmerschaft werden weitgehend ausgeblendet. Für Müller ist die Rolle der Unternehmerverbände nicht als staatliche Indienstnahme privatwirtschaftlicher Organisationen zu begreifen, sondern als Teil einer Verflechtung von Staat und Wirtschaft, welche in Anlehnung an Gerhard Lehmbruch als „korporatistische Konzentration“ bezeichnet wird. Hier liegt gewissermaßen ein Grundproblem der Studie. Die empirische Darstellung ist durchaus erhellend, doch werden auf der Basis einer recht kleinen Gruppe immer wieder Generalisierungen getroffen, bei denen gegenläufige Trends eine zu geringe Beachtung erfahren. Natürlich konnten wirtschaftliche Interessenvertreter während des Nationalsozialismus ihre Vorstellungen äußern und teilweise auch einbringen, sofern sie den neuen politischen Rahmen akzeptierten, doch den Gegnern blieb eine entsprechende Möglichkeit zur Interessenartikulation verwehrt.

Die von Müller konstatierte institutionelle Aufwertung der Interessenvertreter in der Rüstungs- und Kriegswirtschaft des NS-Regimes und der Vichy-Regierung endete nicht mit dem Zweiten Weltkrieg, vielmehr wurden ihre Dienste bei der Neuordnung der politischen und ökonomischen Verhältnisse in der Bundesrepublik und in Frankreich erneut herangezogen. Im Unterschied zu gängigen Interpretationen kommt er zu dem Schluss, dass es nicht der Druck der Mehrheit der lohnabhängigen Bevölkerung war, der eine Transformation der wirtschaftlichen Verhältnisse bewirkte, sondern unternehmerische Interessenvertreter hier treibende Kraft waren. Eine Durchsetzung gewerkschaftlicher Ziele sieht er daher kaum. „Der transformierte, mit Demokratie kompatible Kapitalismus war vielmehr ein von Unternehmervertretern engagiert betriebener koordinierter Kapitalismus.“ (S. 417) Gewiss bedienten sich die Alliierten nach 1945 der Kompetenz von Verbandsführern, und zweifellos verfügten Interessenvertreter über Kanäle zur Bundesregierung, doch blieb die Erfolgsbilanz jener stillen Diplomatie oftmals hinter ihren Erwartungen zurück.4

Insgesamt zeichnet Müller hier in weiten Teilen das Bild einer homogenen Gruppe von Verbandsvertretern, die als Befürworter eines neuen Kapitalismus maßgeblich auf die Ausgestaltung der wirtschaftlichen Ordnung in Frankreich und Deutschland – besonders nach 1945 – einwirkten. Damit bereichert er die lange Zeit vernachlässigte Verbändeforschung um interessante Aspekte und setzt mit seinen Thesen zugleich Impulse für neue Forschungen. Allerdings steht dem begrüßenswerten und durchaus ertragreichen deutsch-französischen Vergleich eine Verengung auf eine überschaubare Gruppe von Verbandsfunktionären gegenüber, die andere zeitgenössische Auffassungen über den Kapitalismus in der Großindustrie, dem Bankwesen, der Landwirtschaft oder gar der Arbeiterschaft zu wenig miteinbezieht und damit die Aussagekraft der Studie schmälert.

Anmerkungen:
1 Jüngst hierzu: Sven Becker, Lukrativer Wechsel, in: Der Spiegel 2/2020, 04.01.2020, S. 17-19.
2 Paul Windolf, Unternehmensverflechtung im Organisierten Kapitalismus. Deutschland und USA im Vergleich 1896–1938, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 51(2) (2006), S. 191–222.
3 Johannes Bähr / Christopher Kopper, Industrie, Politik, Gesellschaft. Der BDI und seine Vorgänger 1919–1990, Göttingen 2019, S. 114–135.
4 Ebd., S. 208–222.

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